“Grand Canyon”: Viel besungenes Naturwunder und Disneys oft übersehene Fortführung des “Fantasia”-Konzepts

Obwohl er im Disneyland und in Disneyland Paris verewigt wurde, ist der Kurzfilm „Grand Canyon“ bloß eine Randnotiz in Walt Disneys Schaffen. Dabei ist der mit einem Oscar ausgezeichnete Kurzfilm überaus beachtenswert.

Walt Disneys Beziehung zu „Fantasia“ ist so komplex, man könnte ganze Bücher mit diesem Thema füllen – und praktisch jede Walt-Disney-Biografie hat ihre eigene Interpretation des Verhältnisses zwischen Künstler und Kunstwerk. Es war ein Werk großer Ambition. Er bezeichnete den Film als zeitlos, unentwegt erweiterbar – sowie als großen Fehler, den er nicht wiederholen wollte. Die simple Antwort auf die Frage, was Disney über „Fantasia“ gedacht hat, dürfte sein: Alles.

Walt Disney befand sich während der Produktion im Rausch seines kometenhaften Aufstiegs. Es war der vorerst letzte Film, den er und sein Studio produziert haben, ohne dabei Kompromisse einzugehen. Es war sein offenstes Liebäugeln mit höherer Kunst. Und die zeitgenössische Rezeption war kalt. Wie sollte ein erfolgsverwöhnter Perfektionist da leicht zu kategorisierende Gefühle bezüglich „Fantasia“ entwickeln?

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Was das mit dem 29-minütigen „Grand Canyon“ zu tun hat? Mehr als man zunächst denkt. Der von Walt Disney und Kameramann Ernst A. Heiniger produzierte Kurzfilm erschien während der Blütezeit von Disney-Naturfilmen. Die hatten mal sowohl dokumentarischen Anspruch sowie Interesse daran, nebenher Geschichten zu erzählen (etwa „Im Lande der Bären“ von 1953). Andere Male nutzten sie Naturaufnahmen, um rein fiktionale Erzählungen aus ihnen zu spinnen (etwa in der Eichhörnchenfabel „Perris Abenteuer“).

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Die Suite zum Canyon, hier abgebildet im Film zur Suite zum Canyon (© Disney)

Ein Naturschauspiel zum Anhören

„Grand Canyon“ sticht aus der Welle an Disney-Naturfilmen heraus: Er könnte glatt ein Segment in einem hypothetischen Realfilm-„Fantasia“ darstellen. Regisseur James Algar interpretiert darin unter Mitwirkung Heinigers, dessen Gattin Jeanne Heiniger und Filmeditor Norman R. Palmer mittels prachtvoller Aufnahmen des Grand Canyons in CinemaScope-Qualität ein instrumentales Musikstück: Die 1931 erstaufgeführte „Grand Canyon Suite“ des amerikanischen Komponisten Ferde Grofé.

Grofé ging zuvor schon in die Musikgeschichtsbücher ein, indem er George Gershwins legendäre „Rhapsody in Blue“ orchestrierte – die Disney-Fans sicherlich aus „Fantasia 2000“ kennen. Alger war die ideale Wahl für diesen Film – er gehörte zu den Regisseuren hinter „Fantasia“, stemmte jedoch auch einige von Disneys Naturdokumentationen, wie „Die Wüste lebt“, den schon erwähnten „Im Lande der Bären“ und „Die Robbeninsel“.

Er verfügte also sowohl über das technische Knowhow, das damals für eindrucksvolle Naturaufnahmen dringend von Nöten war, als auch über das künstlerische Auge, um die Natur in all ihrer Schönheit einzufangen. Hinzu kam seine Erfahrung darin, Bilder auf ein nicht für den Film erstelltes Musikstück abzupassen, und dabei ohne Dialoge oder Erzählstimme eine Dramaturgie, sogar eine Narrative zu erzeugen.

Wie schon bei „Fantasia“ packten die Verantwortlichen hinter „Grand Canyon“ die Musikvorlage allerdings nicht mit Samthandschuhen an, sondern gaben sich die Erlaubnis, Teile der Suite zu verschieben. Grofés Komposition besteht aus den fünf Sätzen „Sunrise“, „Painted Desert“, „On the Trail“, „Sunset“ sowie Cloudburst“, in Algers Interpretation tauschen die ersten beiden Sätze ihre Plätze, ebenso wie die letzten beiden. Nur der dritte Satz bleibt also an seinem ursprünglichen Platz – sowie der Abschluss des Satzes „Cloudburst“, der nämlich so verschoben wird, dass er als Finale des Satzes „Sunset“ und somit des gesamten Films dient.

Das liest sich an dieser Stelle vielleicht verwirrend, wurde aber so arrangiert, dass die Musik im Kurzfilm „Grand Canyon“ einen magisch-bewegenden Fluss entwickelt: Bildlich und klanglich verschaffen wir uns erst einen allgemeinen Überblick über dieses majestätische Naturwunder, bevor wir einen exemplarischen Tag erleben – inklusive kleiner Fragmente, in denen Tiere mit den Wetterbedingungen kämpfen.

Primär reicht die Art und Weise aus, wie das dokumentarische Material im Zusammenspiel mit der Musik aneinandergereiht wurde, um diese Eindrücke und kleinen Erzählungen zu kreieren. Vereinzelt half jedoch „Peter Pan“- und „Mary Poppins“-Hintergrundmaler Art Riley dem Geschehen auf die Sprünge: Riley, der schon am Pastorale-Segment von „Fantasia“ sowie am bunten Musikrausch „Drei Caballeros“ mitwirkte, agierte bei Disney-Kurzdokus gelegentlich als Trickkünstler, der durch animierte Elemente reales Material aufpeppt. So auch hier.

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Der majestätische Grand Canyon aus der Perspektive eines Ruderbootes (© Disney)

Vom amerikanischen Naturschauspiel zum deutschen Orchester

Eingespielt wurde die „Grand Canyon“-Musik unter der Leitung von Dirigent Friedrich Stärk, dem damaligen Musikdirektor der Walt Disney Studios. Der frühere Stummfilmkino-Pianist, Orchestermanager und Dirigent des Los Angeles Philharmonic wurde von niemand Geringerem als Leopold Stokowski an Disney vermittelt.

Eine von Stärks ersten Aufgaben war es, als eine Art menschliches Bindeglied zwischen dem Meisterdirigenten und den Zeichnern zu agieren: Ihm wurde die Pflicht zugetragen, die „Fantasia“-Musikstücke in sogenannte „Expressure Sheets“ zu übersetzen, die einzelnen Instrumenten innerhalb einer Komposition Farben zuordnen, was den Animatoren die Arbeit erleichterte.

Obwohl Stärk anlässlich des Mammutprojekts „Fantasia“ zu Disney stieß, kam er als Musikarrangeur bereits beim letztlich zuvor veröffentlichten „Pinocchio“ zum Einsatz und blieb dem Studio über den Doppelschlag an 1940er-Filmen hinaus treu. Er war besonders intensiv in die musikalische Begleitung der Disney-Naturdokus involviert, weshalb er wie prädestiniert für „Grand Canyon“ war:

Durch „Fantasia“ hatte er ein Gespür dafür, bestehende Musikstücke auf neu für sie geschaffenes Bildmaterial zu arrangieren. Durch seine Arbeit an den Naturdokus sammelte er wiederum Erfahrung bezüglich dessen, nach welchen Klangfarben dokumentarisches Bildmaterial verlangt, dessen Ästhetik sich selbstredend von handgezeichneter Animation unterscheidet.

Die Arbeit an „Grand Canyon“ führte zudem zu einer unerwarteten Heimkehr. Der Sohn einer wohlhabenden Familie wanderte 1913 im Alter von 21 Jahren aus Deutschland aus. Doch eine Kette von Ereignissen bedingte, dass Stärk für Disney mehrmals nach Deutschland zurückkehren sollte: Disneys Plattenlabel Disneyland Records machte 1957 ein mieses Geschäftsjahr durch, und Vertriebschef Al Latauska verscherzte es sich mit Walt Disney, indem er in einem abschätzigen Tonfall gestand, sich seine eigenen Produkte niemals anzuhören. Kurz darauf verließ er die Firma.

Sein Nachfolger Jimmy Johnson tourte durch das Land, um mit Verantwortlichen in Plattengeschäften über den Status quo der Disneyland-Records-Veröffentlichungen zu sprechen – und kam zu katastrophalen Ergebnissen: Latauska ließ überteuertes, logistisches Chaos zurück. Disneys Plattenlabel benötigte eine unmittelbare Kehrtwende, damit es nicht gegen die Wand gefahren wird. Allerdings kämpften Musiker:innen in den USA gerade um höhere Honorare für die Mitwirkung an Filmaufnahmen, das Hauptstandbein von Disneyland Records.

Also wurde der Plan gefasst, Disney-Filmmusiken zeitweilig in Europa aufzunehmen. „Grand Canyon“ diente als erstes Vortasten, ob diese Idee zu zufriedenstellenden Ergebnissen führt, und wurde mit der Münchner Symphoniker eingespielt. Alle Beteiligten waren derart begeistert, dass kurz darauf auch „Dornröschen“ in dieser Konstellation aufgenommen wurde.

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Der Himmel über dem Grand Canyon (© Disney)

Die Nachwirkung

Wären Walt Disney und Co. unzufrieden mit „Grand Canyon“ gewesen, vielleicht würde „Dornröschen“ anders klingen, ebenso wie all die großen Disney-Klassiker, deren Musik danach ebenfalls in Deutschland eingespielt wurde. Auch abseits des Disney-Tellerrands lassen sich Spekulationen über die Bedeutung dieses Kurzfilms anstellen. Immerhin lässt er sich als filmischer Vorfahr des legendären Experimentalfilms „Koyaanisqatsi“ von Godfrey Reggio betrachten.

Darin fängt der Kunstfilmer die Pracht der Natur, aber auch die bedrohliche Ausbreitung des Menschen, in atemberaubenden Bildern ein, die einzig und allein durch das Gezeigte unterstreichende Instrumentalmusik kommentiert werden. Kein Erzählkommentar, keine Dialoge!

Selbstredend ist es reine Spekulation, ob es in einer Welt ohne „Grand Canyon“ auch kein „Koyaanisqatsi“ gäbe. Doch selbst wenn man diese Spekulationen unterlässt, so teilen sich diese Filme kreative DNA – und der Disney-Kurzfilm würde einen perfekten Vorfilm für „Koyaanisqatsi“ abgeben. (Seht das als Tipp für euren nächsten Filmabend!)

Eines lässt sich indes mit Sicherheit sagen: Ohne Algars mit einem Oscar gekrönten Kurzfilm wäre Disneyland um eine Attraktion ärmer! Denn der den ganzen Park umkreisende Dampfzug fährt auch durch das sogenannte „Grand Canyon Diorama“, einen riesigen, die Flora und Fauna des Grand Canyons abbildenden Schaukasten. Selbstredend, während Grofés Musik zu hören ist.

Disney wurde durch die Vorbereitungen zum Kurzfilm zu dem Diorama inspiriert, doch ähnlich wie schon das Dornröschen-Schloss feierte es seine Eröffnung vor der dazugehörigen Filmpremiere: Das Diorama wurde im Frühjahr 1958 enthüllt, der künstlerisch ambitionierte Doku-Kurzfilm lief erst im Dezember desselben Jahres an.

34 Jahre nach dem kalifornischen Diorama wurde das Konzept nach Europa exportiert: Wenn die Züge der Pariser Disneyland Railroad den Bahnhof der Main Street U.S.A. verlassen, fahren sie zunächst durch einen Tunnel inklusive Grand-Canyon-Diorama, bevor sich vor den Augen der Passagier:innen die Weite des Frontierlands eröffnet.

Die Dioramen sind wohl die Winkel der Disney-Parks, deren filmische Inspirationsquelle den wenigsten Besucher:innen bekannt sein dürfte. Doch die in Cinemascope gedrehte Kurzdoku ist mehr als eine Kuriosität. Sie ist der Beweis, dass der Grundgedanke hinter „Fantasia“ Walt Disney nicht losließ!

Disney wagte sich erneut an klassische Musik und die Absicht, sie visuell zu interpretieren und so einem neuen Publikum vorzustellen. Sowie an die Mission, Klassik ihrem bereits bestehenden Publikum in ungeahnter Form zu präsentieren.

Egal, wie oft Walt Disney die Idee hinter „Fantasia“ öffentlich hinterfragte – sie blieb lebendig. „Grand Canyon“ ist der oft vergessene, bildhübsche Beweis.

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„Grand Canyon“ streamt leider nicht auf Disney+, ist aber auf DVD und Blu-ray im Bonusmaterial der Special Collection Deluxe Edition, Platinum Edition, Diamond Edition und Disney Classics Collection von „Dornröschen“ zu finden.

Dieser Artikel wäre nicht möglich gewesen ohne die großartige Recherchearbeit und kurzweilige Informationsvermittlung im Sachbuch „Mouse Tracks: The Story of Walt Disney Records“ von Tim Hollis und Greg Ehrbar.

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